Auftakt der Bücherbus-Literatour auf dem Wilhelmsplatz Ernst, aktuell und entspannt

Mitwirkende bei der Literatour am Wilhelmsplatz (von links): Loimi Brautmann, Elke Beeck, Andrea L’Abbate, Ida Todisco, Nicole Köster und Klaus Puth.

Offenbach – Seit 1956 fährt ein zwölf Meter langer Bücherbus durch Offenbach, um 14 Tonnen Bücher und Medien zu den Menschen zu bringen. Autorin Ida Tedesco vergleicht ihn mit „einem Bücherwal, der sich durch die Straßen schiebt“. Als Moderatorin begleitete sie den Auftakt der „Bücherbus-Literatour 2022“ auf dem Wilhelmsplatz. Vor dem Bus präsentierte sie den Illustrator und Autor Klaus Puth als „Hauptgast“ im Wechsel mit drei weiteren Vorlesern: Andrea L´Abbate von der Käsemanufaktur, Stadtführer Loimi Brautmann und Kulturwissenschaftlerin Elke Beeck.

Todisco stellt die Reihe vor: „Viermal im Jahr wird ein Autor auf Literatouren an Bord sein, um ein Stadtviertel oder einen besonderen Ort anzusteuern und dort aus Lieblingsbüchern zu lesen oder vom Schreiben und Gestalten zu berichten.“ Dazu gesellen sich Offenbacher aus der Stadtgesellschaft, Politik und Kulturszene. Die Gästeliste soll ebenso die Internationalität der Stadt spiegeln wie diverse Aspekte des Stadtlebens in den Quartieren.

In gekonntem Plauderton brachte Todisco in entspannter Atmosphäre mit Wein und Snacks zuerst Nicole Köster am Vorlesetisch ins Spiel, die Leiterin der Stadtbücherei, die gerne für ihr Haus im Büsingpalais und den Bücherbus warb.
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Brautmann griff das als erster Vorleser auf: „Ich bin ein großer Fan vom Bücherbus, wie auch meine Kinder, die oft mit ganzen Reisetaschen voller Medien nach Hause kommen.“ Als Lieblingsbuch stellte der aus Israel gekommene, in Offenbach „der Liebe wegen gestrandete“ Brautmann Karen Köhlers Erzählband „Wir haben Raketen geangelt“ vor.

Erst sechs Monate wohnt Elke Beeck in Offenbach, zeigte sich aber kenntnisreich, auch zur Buchhandlung am Markt und deren Büchergilde-Produkten, die es am Büchertisch gab. Ihre Passagen aus Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir kurz grandios“ weckten nicht wenig Interesse – wie ihre Plauderei mit Todisco über Lesertypen. Gute Laune verbreitete der Auftritt von Andrea L´Abbate, die aus dem früheren Beruf einer Stewardess kommend, schon lange nahe dem „Willi“ für delikate italienische Käsekreationen sorgt.

Wie aktuell die Lesungen wirkten, sah man am Auftritt Klaus Puths, dem keineswegs unpolitischen Zeichner und Vorleser aus Mühlheim. Natürlich brachte Todisco erst mal populäre Buch- und Illustrationsreihen zu Gänsen, Yoga-Kühen und hustenden Hunden aufs Tapet. Puth hat davon schon über 100 Bücher geliefert. Er nutzte aber die Gelegenheit, um ernstere Töne anzuschlagen. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit dem „Simplicius Simplicissimus“, dem großen Barockroman des vor 400 Jahren in Gelnhausen geborenen Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen.

Eingängig erzählte Puth von der Hauptperson, dem einfältigen Spessartbub, der weder die Namen seiner Eltern kennt noch den Unterschied zwischen Wölfen und dem frommen Einsiedel, dem er im tiefen Wald begegnet. Puth: „Der schier endlose Dreißigjährige Krieg bildet die Bühne dieser Mischung aus Abenteuer- und Bildungsroman, der auch wie eine Robinsonade wirkt oder eine Utopie. Obwohl er früher im barocken Hochdeutsch für viele schwer lesbar war, ist er bis heute ein literarischer Hammer. Seit der Übersetzung von Reinhard Kaiser von 2009 in die Sprache des heutigen Hochdeutsch wirkt der Text viel zugänglicher. Mit Simone Grünewald bereite ich gerade eine illustrierte, textlich eingedampfte Jugendbuch-Version vor.“

Dann ließ es sich Puth nicht nehmen, in der neuen Sprache das Schicksal des tumben Buben nah an die Zuhörer heranzubringen. Was früher zuweilen surreal gewirkt habe, wirke aktuell nicht mehr so fern. „Grimmelshausens genaue Schilderungen zu marodierender Soldateska, die wahllos Dörfer und Höfe überfällt und plündert, vergewaltigt und mordet, erinnert fatal an Butscha und ähnliches. Beim Lesen denkt man nicht nur einmal darüber nach, wie wenig die Menschheit in 400 Jahren dazugelernt hat.“

Von Reinhold Gries