Gäste aus Belarus lernen Dietzenbach kennen Politik ist bewusst kein Thema

Mediziner unter sich: Die Hausärzte Dr. Katrin Straßer (links) und Dr. Axel Elsner (rechts) unterhalten sich mit ihrem belarussischen Kollegen Sergej Burdeljow (Mitte) über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Bild: schmedemann

Dietzenbach – Das Reaktorunglück von Tschernobyl ist auf den heutigen Tag 38 Jahre her. Eine Region, die damals besonders stark von der nuklearen Strahlung betroffen war, ist der Kreis Kostjukovitschi in Belarus. Daraufhin haben sich kurz nach dem Unglück Hilfsorganisationen gebildet, die es Kindern aus der gleichnamigen Kreisstadt ermöglicht haben, heraus aus dem belasteten Gebiet zu kommen und drei Wochen in Dietzenbacher Gastfamilien zu verbringen. Aus der Organisation wurde ein Verein, der Verein wiederum hat auf den heutigen Tag vor 15 Jahren die Städtepartnerschaft zwischen Dietzenbach und Kostjukovitschi hervorgebracht. Ein Ereignis, das nicht nur der Völkerverständigung dient, sondern auch den politischen Umständen in Belarus geschuldet ist.

Der Freundeskreis Kostjukovitschi besteht seit 1997 als eingetragener Verein und schreibt sich in erster Linie humanitäre Hilfe auf die Fahne. Der Vorsitzende Dietmar Kolmer sagt: „In den Anfangszeiten lag der Fokus auf medizinischer Hilfe, mittlerweile geht es um Soziales und Bildung.“ Doch neben der Lieferung von Hilfsgütern war es schon immer der Austausch unter den Menschen, der die Arbeit des Vereins besonders auszeichnet. 2008 versetzte das Regime in Belarus den Ehrenamtlern einen Dämpfer: Als Widerstand gegen das laufende Besuchsprogramm forderte der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko einen Staatsvertrag, der gewährleisten sollte, dass die Jugendlichen nach dem Austausch nach Belarus zurückkehren. Als von der Bundesregierung unabhängige Organisation war der Freundeskreis gar nicht imstande, einen solchen Vertrag aufzusetzen. Resultat: ein Ausreiseverbot für belarussische Jugendliche. Die Lösung: eine Städtepartnerschaft, die heute seit 15 Jahren besteht. Die Besuchs- und Hilfsprogramme können seitdem unter dem Siegel der Verschwisterung stattfinden. Und in dieser Woche sind wieder sieben Belarussen zu Gast in Dietzenbach, um ihre Partnerstadt kennenzulernen – und das deutsche Pendant zu ihrer Arbeitsstelle. Zuletzt waren 2018 Belarussen zu Gast, die Serie soll nun wieder fortgesetzt werden. Zur Reisegruppe gehören Kita- und Schulleiterinnen, Deutschlehrerinnen, ein Chefarzt des Kreiskrankenhauses. Die Chefredakteurin der Lokalzeitung wollte mitkommen, war jedoch beruflich eingespannt und holt ihren Besuch im Juni nach. „Über die Jahre haben wir viele Einrichtungen besucht und dadurch gute Kontakte aufgebaut. Wir sprechen die Menschen dann gezielt für die Bürgerreise an und gestalten unser Programm in Dietzenbach entsprechend“, erläutert Kolmer. So hat die Gruppe zwei Dietzenbacher Kitas besucht, einen Halt in der Ernst-Reuter-Schule eingelegt und die Hausarztpraxis von Dr. Axel Elsner und Dr. Katrin Straßer an der Frankfurter Straße besichtigt. Die Mediziner kommen ins Gespräch: „Bei uns ist immer ein Allgemeinmediziner im Krankenhaus der erste Ansprechpartner, aber die Klinik ist für die Patienten bis zu 40 Minuten weit weg“, sagt Sergej Burdeljow auf Russisch. Iryna Lukashenka, eine Deutschlehrerin, übersetzt. Hausarztpraxen gebe es in Belarus nicht. Die medizinische Versorgung sei komplett vom Staat finanziert. „Wir haben dafür Krankenkassen und zahlen Beiträge von unserem Lohn“, erläutert Straßer das deutsche Gegenstück. Was in Deutschland medizinische Angebote sind und nur in bestimmten Berufsgruppen Voraussetzung, gilt in Belarus für jeden Arbeitnehmer: „Es gibt jährliche Gesundheitschecks, die vorgeschrieben sind, auch bei einem Jobwechsel“, sagt Burdeljow. „Vieles ist bei uns nicht schlechter, aber anders“, resümiert der 34-Jährige nach dem Praxisbesuch. Seine Neugier hat ihn nach Dietzenbach geführt, die deutsche Kultur habe ihn schon immer gereizt, er fand Deutsch in der Schule spannend, auch wenn seine Sprachkenntnisse inzwischen etwas eingerostet sind. Dass Sprache etwas Lebendiges ist, bestätigt auch die Lehrerin Lukashenka. „Seitdem ich herkomme, hat sich mein Deutsch deutlich verbessert.“ Für sie seien die Reisen nach Dietzenbach, die sie seit 2008 unternimmt, immer etwas Besonderes. „Die Stadt gehört zu meinen Sommererinnerungen.“ Besonders der Austausch mit den Schülern liegen ihr am Herzen. Ein bestimmtes Thema lassen die Beteiligten ganz bewusst außen vor: Politik. „Die Menschen in Belarus sind absolut pazifistisch, das hat nichts mit der Regierung zu tun“, stellt Kolmer klar. Vor dem Ukrainekrieg sei die Reise kürzer gewesen, konnte man doch mit dem Flugzeug direkt in Minsk landen. Inzwischen muss ein Umweg über Vilnius genommen werden, von dort aus fährt ein Bus.

Von Lisa Schmedemann