Terror, Ohnmacht und Mut Gila Lustiger stellte ihr neues Buch „Erschütterung“ vor

„Es ist wichtig, die Lähmung im Angesicht des Terrors zu überwinden.“ Harry Oberländer im Gespräch mit Gila Lustiger im Mousonturm. Foto: Faure

Ostend (jf) – Bereits am 10. März wurde das Hessische Literaturforum im Mousonturm nach einer mehrwöchigen Renovierungspause wieder eröffnet. Den ersten Abend gestalteten die Autoren Heinz Helle („Eigentlich müssten wir tanzen“) und Thomas von Steinaecker („Die Verteidigung des Paradieses“) und die Moderatoren Björn Jager und Malte Kleinjung.

Einen Tag später fand dort eine Buchpremiere statt: Gila Lustiger sprach mit Harry Oberländer über ihren soeben erschienenen Essay „Erschütterung. Über den Terror“. „Es ist ein kluges, viele Fragen stellendes, mutiges Buch. Und es lässt Rückschlüsse zu, wie wir richtig mit den Flüchtlingen in Deutschland umgehen sollten“, würdigte Björn Jager, Leiter des Literaturforums. Beim Lesen der knapp 160 Seiten könne man außerdem der Schriftstellerin bei der Arbeit zuschauen.

Der ebenfalls anwesende Verleger Georg Oswald erklärte: „Gila Lustiger war nach den Terroranschlägen am 13. November 2015 in Paris eine gefragte Ansprechpartnerin für die Medien. Der Berlin-Verlag hat sie bei der Arbeit an ihrem Roman ‚Die Entronnenen’, für den sie 2015 den Robert Gernhardt Preis erhielt, gestört. So kam es zum Essay – ein gelungener Versuch.“

Lustiger steht zu ihrer Angst

Harry Oberländer stellte die in Frankfurt geborene und seit 1987 in Paris lebende Autorin und ihr Buch kurz vor. „Bei Gila Lustiger verbinden sich persönliche Betroffenheit und intensive Recherche. Es ist wichtig, die Lähmung im Angesicht des Terrors zu überwinden.“ Die Autorin heftete nach dem Anschlag Listen mit Informationen und Zeitungsausschnitte an die Wand. „In den ersten Tagen nach dem Terror habe ich alles gesammelt, was ich bekommen konnte, hatte das Handy immer dabei und immer laut gestellt“, erzählte Lustiger. „Gefragt waren jedoch effiziente Maßnahmen, doch die Ermittlungsarbeit dauert. Die Regierung handelte schnell mit Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten“, beschrieb die Autorin die Situation.

„Das Volksempfinden, das es nicht zulässt, Maßnahmen zu hinterfragen, flößt mir Angst ein“, sagte Lustiger, „ich kann der eigenen Erschütterung nur mit präzisen Fakten begegnen.“

Als es 2005 zu Gewaltexzessen in den Vororten kam, haben Soziologen wie Michel Wieviorka darauf hingewiesen, „dass es in den Banlieues niemanden gab, mit dem der Staat über mögliche Lösungen hätte verhandeln können“, schreibt Lustiger und zitiert Wieviorka: „Die nackte Gewalt entsteht dort, wo jede Form von Vermittlung, jede Moral und Ethik fehlen.“

Respekt fehlt

„In der ‚Politique de la ville’, der sogenannten sozialintegrativen Stadtpolitik, gab es eine Vielzahl von Ansätzen, der Ausgegrenztheit der Jugendlichen zu begegnen. Das spiegelt aber auch die Ratlosigkeit der Verantwortlichen wider“, erläuterte Lustiger. „Es gibt kein Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit. Und es nützt nichts, den Jugendlichen Programm überzustülpen. Viele der Ausgegrenzten haben das Gefühl, dass ihnen kein Respekt entgegengebracht wird.“

32 Bibliotheken wurden seit 2005 zerstört, öffentliche Einrichtungen. „Aber Sprache war für die hoffnungslosen Jugendlichen ein Mittel der Demütigung. Das Versprechen der Gleichheit war für sie nicht eingelöst worden“, stellte die Autorin fest.

Mit den Anschlägen von Paris im November 2015 sei eine neue Dimension erreicht worden. „2005 hatten die Randalierer weder die Grenzen ihrer Banlieues noch die Grenzen ihres Denkens überschritten. Das hatte sich im November verändert.“

Harry Oberländer bemerkte nach den von Gila Lustiger vorgetragenen Passagen: „Das Bewusstsein, dass wir etwas ändern können, macht Mut.“ Er verwies auf Lustigers Rede anlässlich des Robert Gernhardt Preises, in der sie sagte: „Nach Kriegsende waren zehn Millionen Displaced Persons in Europa unterwegs. Ohne die Entscheidung der Alliierten, diesen Menschen zu helfen, wäre meine Familie wohl gestorben. Es muss doch 70 Jahre später möglich sein, dass Europa Menschen auf der Flucht ebenfalls hilft.“

Das Programm für März und April steht; mehr dazu ist unter www.hlfm.de zu finden.